Der Portraitkünstler des diesjährigen SHMF Omer Meir Wellber präsentiert zeitgemäße, lebendige Orchestermusik im Deutschen Haus Flensburg
Manchmal sind es Zufälle oder kleine Momente der Unkonzentriertheit, die einem unvergessliche Konzerterlebnisse bescheren. Ich hatte versehentlich Tickets für ein Konzert des SHMF mit dem Festivalorchester unter der Leitung von Omer Meir Wellner gebucht. Gestern war es soweit und um es vorwegzunehmen, das Konzert war eines der Sorte, die es in Flensburg und überhaupt wohl nur selten zu erleben gibt. Es begann mit dem Doppelkonzert für Cello und Violine vom diesjährigen "Composer in Focus", Johannes Brahms. Veronika Eberle an der Violine (auf Stahlsaiten) und besonders Steven Isserlis am Cello (auf Darmsaiten) verliehen den Soloinstrumenten die Strahlkraft, die die Komposition verlangt. Immer wieder nahm Isserlis Blickkontakt mit Eberle auf und schien sie zu motivieren, in seinen Flow zu kommen. Das Geschehen auf der Bühne erinnerte optisch manchmal schon fast an improvisierende Musiker*innen bei Jazzkonzerten. Wie der späte Brahms es gerne notierte, wurde ein Bogen in riefen Tönen vom Cello begonnen und dann von der Violine in höherer Lage fortgesetzt, und anders herum. Ein schöner, Effekt ist, dass so beide Soloinstrumente miteinander verbunden werden. Auch Liebhaber der "Ungarischen Tänze" kommen in diesem Doppelkonzert auf ihre Kosten, das Leitmotiv des dritten Satzes klingt recht ungarisch. Das Festivalorchester spielte seinen Part souverän und mit viel Spielfreude, wer aufgrund der Jugend der Menschen an den Instrumenten ( alle Orchestermitglieder sind jünger als 27 Jahre) Zurückhaltung, Unsicherheit oder Ähnliches erwartet hatte, wurde enttäuscht. Der erste Teil des Konzerts wurde so souverän präsentiert, wie es nur geht. Noch spannender wurde es dann im zweiten Teil, als Werke von Joe Schittino (*1977) und dann von Paul Ben-Haim (1897-1984) auf dem Programm standen. Das Stück von Schittino war mit "Alma" betitelt und im Programmheft war zu lesen, dass es eine Sinfonische Ballade für Klarinette Akkordeon und Orchester in Erinnerung an Alma Rosé und die Mädchen des Mädchenorchesters von Auschwitz ist. Entsprechend mächtig und überraschend kommt die Musik daher. Nichts ist vorhersehbar, nichts wirkt altbekannt. Es sind atemberaubende, mitreißende Minuten. So mitreißend, dass es auch für einen mit Gas erfüllten silbernen Luftballon, vermutlich ein Relikt einer Party, der an der Decke über der Bühne schwebte, kein Halt mehr gab und er wie ein Stilmittel nach einem mächtigen Trommelwirbel zu Boden sank. Meir Wellber musste in einer Doppelfunktion als Solist mit Akkordeon das Orchester dirigieren, unterstützt von Allessio Vicario an der Klarinette, der in seinen Pausen das Dirigieren mit übernahm. Der Abend wurde beendet mit der Sinfonie Nr. 1 von Paul Ben-Haim. Auch dieses Werk steckte voller Überraschungen, Dynamik, Macht und unkonventionellen Ideen. So kam beispielsweise eine gestopfte Tuba zum Einsatz. Alle drei Sätze waren äußerst spannend und nach anderen des letzten Taktes fragte ich mich nur, wie es möglich ist, dass so junge Menschen solch ungewöhnlich "vertrackte" Musik derart souverän präsentieren können. Das Dirigat von Wellber scheint Wunder möglich zu machen. Das Flensburger Publikum verließ den Saal dementsprechend begeistert.
Carsten Ingwersen