"Londoner Chornacht" - das SHMF zu Gast im Dom zu Schleswig

Im Dom zu Schleswig gab es im Rahmen des diesjährigen Schleswig-Holstein Musik Festivals ein Vokalkonzert zu hören, das man in dieser Form wohl nicht oft erleben kann. Der Brite Simon Halsey hatte für das Spitzenensemble ein Programm mit Werken bekannter und (zumindest in Deutschland) unbekannter Komponisten zusammengestellt, das eigentlich so etwas wie eine Weltausstellung für Vokalmusik war. Die Mitglieder des Ensembles sangen sich souverän durch die vertrackten Notentexte. Gegeneinander montierte Melodieführung wäre ja bereits eine gewisse Schwierigkeit für viele Chöre. Dies diente aber für die 20 Sängerinnen und Sänger des NDR Vokalensembles eher zum Aufwärmen. Da liefen die Rhythmen durcheinander, Staccati wechselten mit Glissandi, standen einander im Wettstreit gegenüber und so etwas wie eine durchgehende Melodie als Klammer für die vielen unterschiedlichen und oft genug widersprüchlichen Elemente war meist nicht vorgesehen. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb verfolgte das Publikum der Performance gebannt und lauschte lautlos den äußerst schweren Stücken. Vertreten waren Werke von Luciano Berio, Judith Weir, Jonathan Dove, aber auch Stücke von auf dem Kontinent etwas bekannteren Komponisten wie Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams und Edward Elgar. Die Sänger und Sängerinnen sangen konzentriert, aber mit viel Humor und auch Showelementen und interessant zu sehen war, dass die meisten von ihnen immer wieder ihre eigene Stimmgabel hervorholten, um Orientierung für den folgenden Einsatz zu erhalten. Simon Halsey moderierte durchgehend auf Deutsch, mit einem das Motto des Festivals (Moin London) nochmals unterstreichenden breiten englischen Akzent servierte er interessante Informationen, die das Verstehen der Stücke erleichterten. Sein Humor und seine Souveränität selbst bei einem missglückten Einsatz zu Beginn eines Stücks beeindruckten stark. Es gab keine Pause und zum Schluss ließ Halsey die Ensemblemitglieder sich im Kirchenschiff verteilen und das einzige (mit Harfe, Hanna Rabe) begleitete Stück wiederholen. Das Publikum verließ den wunderschön sanierten Schleswiger Dom geradezu sprachlos vor Staunen über das Konzert. Wer nach einem Ansatz für Kritik sucht, mag mit dem Fehlen von melodiegetragenen Stücken argumentieren. Das Material, das sich das Ensemble übrigens derart zu eigen gemacht hat, als wären die Mitglieder mit ihm aufgewachsen, war wild, humorvoll, lautmalerisch, atemberaubend, ja schwindelerregend. Aber Stücke wie Vaughan Williams´ "Linden Lea" wären es gewesen, die die Zuhörer aus dem ausverkauften Dom als Erinnerung mitgenommen hätten. Dennoch, ich bleibe dabei, dies war Vokalmusik der Extraklasse. Den letzten Akzent aber setzte nicht das NDR Vokalensemble, sondern Natur und Architektur, denn der Turm des Doms hob sich als schwarze Silhouette gegen den Dämmerungshimmel ab, daneben stand die schmale Sichel des Mondes. Schöner kann man aus einem Konzert kaum entlassen werden. Ein großer Dank geht natürlich an das SHMF, aber auch an Simon Halsey für die Zusammenstellung und an das NDR Vokalensemble für die Durchführung eines unvergesslichen Programms, das den Horizont auch von Menschen, die sich bereits viel mit Vokalmusik befasst haben nochmals stark erweitert. Am 2.08. gibt es das alles nochmals zu hören, im anderen nicht- Lübecker Dom des Landes, in Ratzeburg und es wird aufgezeichnet, so dass man später auf NDR Kultur zumindest eine Ahnung davon erhalten kann, was die Sängerinnen und Sänger da abliefern.
Carsten Ingwersen