Stephen Sondheims "Sweeney Todd" in Flensburg - eine maßstabsetzende Produktion

09.10.2023

Erst kürzlich begann ich einen Konzertbericht mit der Bemerkung, dass viele Dinge anders gewesen seien.Das gilt auch für die Produktion des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters und Sinfonieorchesters, die am Freitag nach der Premiere erneut in Flensburg zu erleben war. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich einmal vor dem Theater in einer Schlange warten musste, um ins Haus zu gelangen. Auch das Publikum war etwas anders: jünger und bunter als gewohnt, aber teilweise auch im dunklen Gothic-Style, ebenso wie die Agierenden auf der Bühne. Zu sehen und zu hören gab es das Musical "Sweeney Todd - The Demon Barber of Fleet Street" von Stephen Sondheim. Inhaltlich orientiert es sich an den Schauergeschichten aus dem Moloch des viktorianischen London. Ein Barbier verliert seine glückliche Familie durch eine hinterhältige List eines Richters, der den Barbier in die australische Strafkolonie verbannt, um sich dessen Ehefrau zu bemächtigen. Der Barbier kann viele Jahre später fliehen und nach London zurückkehren - und er will Rache. So wird zum "Demon Barber", der seine Kunden mit dem Rasiermesser umbringt, deren tote Körper sodann in Pasteten landen, weil Fleisch so teuer und schwer zu beschaffen ist. So skurril aber auch einfallsreich wie die Handlung ist auch die Musik. Es gibt Big Band Sound, operesque, arienhaft gesungene Stücke, aber auch popsongartige Lieder mit schönem Melodiegang. Da es sich aber um eine Horrorstory handelt, zerstört eine Violine schon bald die naiv-schön daherkommende Melodie in "Not while I'm around" durch recht schräge Intervalle. Das Böse wirft bereits seine Schatten voraus. Sucht man nach einem Stück, in dem besonders viele Aspekte der Handlung zusammenkommen, findet man es in "Epiphany". Hier taucht das etwas nervös erscheinende perkussive Thema des Musicals auf, es klingt gleichzeitig schräg, verrückt, zerrissen und wird unterbrochen von romantischer Schwärmerei für alte (Familien-) Zeiten, hingebungsvoll gesungen. Dann aber wird es abgelöst vom Hass auf die Welt, der den Protagonisten Benjamin alias Sweeney durchzieht. Hier erhalten die Persönlichkeitsanteile des komplexen Charakters alle eine eigene Klangfarbe. Das verlangt dem Sänger ein hohes Maß an Flexibilität ab, souverän gemeistert von Kai-Moritz von Blanckenburg. Auch die weiteren Rollen sind super besetzt, Evelyn Krahe in der Rolle der eiskalt berechnenden, Menschen manipulierenden Pastetenproduzentin Mrs. Lovett überzeugt sowohl stimmlich als auch schauspielerisch. Überhaupt hinterlässt das gesamte Ensemble einen souveränen Eindruck. Es ist allen eine große Spielfreude anzumerken. Das gilt explizit auch für die Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben, die äußerst präzise und wo erforderlich super homogen eine sehr ungewöhnliche Instrumentierung meistern. Humor findet, auch wenn dies ausgehend von der Handlung nicht unbedingt zu erwarten wäre, ebenfalls einen Platz in der Produktion, was dem Publikum im Sinne von "Comic Relief" dabei hilft, die an sich inhaltlich schwer verdauliche Kost anständig zu ertragen. Die logische Folge ist eine Riesenfeier im Stehen nach dem zweiten Akt, die die Aktiven erkennbar genossen. Zwei Dinge will ich trotz aller Begeisterung kritisch anmerken: Ich hätte mich über eine Aufführung in englischer Sprache gefreut, die dann mehr Möglichkeiten geboten hätte die soziale Herkunft der Charaktere auszuleuchten und über weniger Soundtechnik. Sowohl das Orchester als auch alle Sängerinnen und Sänger verfügen über die Technik, den Theatersaal bis in den letzten Winkel auszuschallen. So kam einiges für meinen Geschmack zu laut im Publikum an (aber ich bin weder schrill noch jung und deshalb ist in dieser Sache meine Meinung vermutlich nicht repräsentativ).
Die Flensburger zeigen mit dieser Produktion, dass man für ein Musical wie dieses keinen Lastwagen voller Technik braucht und keine Weltstars auf der Bühne, um den Zuhörenden ein lange in Erinnerung bleibendes Theatererlebnis zu verschaffen. Chapeau!

Carsten Ingwersen