Verstörend-geniale Neuproduktion der "Salome" von Richard Strauss in der Hamburger Staatsoper


Der Titel einer Autobiographie, die Kent Nagano vor einigen Jahren veröffentlicht hat, lautet: "Expect the Unexpected" (deutsch: "Erwarten Sie Wunder"). Entsprechend gespannt ist die Erwartung des Publikums, darf man als Zuhörer im Publikum tatsächlich gegen Ende von Naganos Amtszeit an der Hamburger Staatsoper mit der Neuproduktion von Straussens Salome viel Unerwartetes erwarten. Wie direkt nach seiner Entstehung findet das Werk einen gesellschaftlichen Rahmen vor, der, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, in der Auffassung vieler Menschen eine Aufführung als nicht angebracht erscheinen lässt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in der Welt ist das Libretto mit seinen antisemitischen Formulierungen in der Tat nicht unbedingt dazu geeignet, als Kunst "für das Große, Schöne, Gute" zu stehen. Natürlich beginnen die Arbeiten zu einer solchen großen Opernproduktion lange im Vorraus und ein Absetzen vom Spielplan erscheint in diesem Fall niemandem als Option, zumal die Oper einen festen Platz "im Kanon" hat. Also fügte man dem Programmheft im "Aktualitätenflyer" der die tagesaktuelle Besetzung nennt, ein Statement bei, das von Georges Delnon (Intendant), Dmitri Tscherniakov (Regisseur) und Kent Nagano (GMD) unterzeichnet ist. Dort betonen die drei, dass sie sich ausdrücklich von jeder Form des Antisemitismus distanzieren. Das zeigt, wie sensibel das gesamte Team für die Probleme oder Brisanz ist, die der Stoff gesellschaftlich-politisch mit sich bringt.Diese Sensibilität kennzeichnet die gesamte Produktion. Elegant vermeidet der Regisseur Dmitri Tscherniakov eine explizierte Darstellung der am häufigsten zum Klischee verengten und karikierten Szenen. Das verlangt dem Publikum jedoch etwas Imaginationskraft ab. So singt Jochanaan nicht aus einer Zisterne heraus, sondern Kyle Ketelsen sitzt mit der Gesellschaft am Tisch, jedoch so platziert, dass er keinen Blickkontakt mit den übrigen Akteuren hat. Auch der Schleiertanz kommt mit Andeutungen aus und es wird kein abgeschlagener Kopf auf einem silbernen Tablett gezeigt. Das Bühnenbild und die Kostüme sind modern und nicht historisierend, was ebenfalls zeitgemäß erscheint. Richard Strauss soll von der Vorlage Oscar Wildes so begeistert gewesen sein, dass er gesagt haben soll "Dieser Stoff schreit nach Musik", (oder so ähnlich). Und diesen Stoff in all seiner Ungewöhnlichkeit aber auch Radikalität setzt Strauss in genialer Weise um. Das zeigt bereits vor Beginn der Vorstellung ein Blick in den Orchestergraben. Es gibt sechs Männer am Schlagwerk und einen Paukisten; drei Posaunen und eine Bassposaune, zwei Harfen und eine Celesta. Bereits hier werden die Kontraste deutlich, die die Oper Salome kennzeichnen. Das philharmonische Staatsorchester spielt derartig mitreißend und produziert derart "Unerhörtes", dass man des öfteren nicht entscheiden kann, ob man lieber in den Orchestergraben oder zur Bühne schauen soll, wo die Sängerinnen und Sänger schauspielerisch äußerst ansprechend die Handlung vorantreiben. Obwohl Texte, die das Werk besprechen seine Extreme betonen und darauf hinweisen, dass Strauss in seiner Oper die Grenzen der Tonalität ausgereizt habe, erscheint mir die Musik nicht schräg oder unangenehm, sondern faszinierend, packend und schlicht groß. Die Größe der Musik wird in dieser Produktion durch die Großartigkeit der Stimmen noch einmal intensiviert. Auch Rollen mit nur wenig Gesangsanteil wie etwa "Page" (Jana Kurukova) werden mit Stimmen versehen, die beeindrucken. Das gilt selbstverständlich auch für tragende Rollen. So liefern Violetta Urmana als Herodias und John Dasziak als Herodes wirklich großartigen Gesang ab. Kyle Ketelsen und besonders Asmik Grigorian aber sind es, die (wie das gesamte Werk selbst) Grenzen verschieben oder neu definieren. Grigorian sagt über sich selbst, dass es besonders die Rolle der Salome sei, mit der sie sich verbunden fühle. Sie begründet dies autobiographisch mit der Erfahrung von Zurückweisung. Und vielleicht ist dieses Verschmelzen mit der Charakteristik einer fiktiven Person, deren Rolle sie spielt, Grundlage bzw. Voraussetzung für Grigorians geradezu gigantische Performance. Da agiert nicht nur eine Sängerin mit perfekt ausgebildeter Stimme, sondern eine Frau, die in der Lage ist, ihre Rolle, die aufgrund ihrer extremen Anlage und ihrer extremen Kontraste vielfach als eigentlich unmöglich gewertet wird, stimmlich nicht nur souverän, sondern geradezu verstörend perfekt und authentisch zu performen. Und so behält Kent Nagano mit dem Titel seiner Autobiographie Recht: Wer nach Hamburg reist, um diese Salome zu erleben, darf Wunder erwarten.
Carsten Ingwersen